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15.4.24

5A_611/2023: Wirkungen eines verfrühten Verwertungsbegehrens (amtl. Publ.)

5A_611/2023: Wirkungen eines verfrühten Verwertungsbegehrens (amtl. Publ.)

von Stéphanie Oneyser am 15. April 2024

In diesem zur Publikation vorgesehenen Entscheid 5A_611/2023 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, ob eine Amtshandlung ungültig ist, wenn sie verfrüht und damit in Verletzung von Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR erfolgt ist. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass es sich bei Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR um eine Ordnungsvorschrift handelt, deren Missachtung ohne Konsequenzen bleibt, es sei denn, das Betreibungsamt hätte das Betreibungsverfahren gestützt auf ein vorzeitiges Fortsetzungs- oder Verwertungsbegehren selbst frühzeitig vorangetrieben.

Dem Entscheid lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Gegen A (Schuldner) leitete B (Gläubiger) eine Betreibung ein. Der Zahlungsbefehl wurde vom Betreibungsamt Zürich 1 am 30. Juni 2020 entsprechend ausgestellt. Am 16. Juni 2021 vollzog das Betreibungsamt die Pfändung in Abwesenheit des Schuldners. Die am 18. August 2021 ausgestellte Pfändungsurkunde wurde dessen Vertreter am 23. August 2021 rechtshilfeweise durch das Betreibungsamt Lugano zugestellt. Mit Schreiben vom 30. August 2021 teilte das Betreibungsamt Zürich 1 dem Vertreter des Schuldners mit, dass der Gläubiger die Verwertung der gepfändeten Vermögenswerte verlangt habe. Die rechtshilfeweise Zustellung dieses Schreibens durch das Betreibungsamt Lugano erfolgte am 18. November 2022.

Gegen die Mitteilung des Verwertungsbegehrens erhob A mit Eingabe vom 18. November 2022 SchKG-Beschwerde beim Bezirksgericht Zürich. Zur Begründung führte er u.a. aus, dass B das Verwertungsbegehren zu früh gestellt habe. Es sei deshalb unwirksam und alle daran anschliessenden Betreibungshandlungen seien nichtig. Mit Beschluss vom 21. Mai 2023 wies das Bezirksgericht Zürich die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat. A zog die Sache an das Obergericht des Kantons Zürich weiter, welches die Beschwerde mit Entscheid vom 27. Juli 2023 abwies.

Dagegen erhob A mit Eingabe vom 25. August 2023 Beschwerde in Zivilsachen beim Bundesgericht. Mit Verfügung vom 20. September 2023 gewährte das Bundesgericht der Beschwerde die aufschiebende Wirkung. Mit Entscheid vom 7. März 2024 wies das Bundesgericht die Beschwerde ab.


Zeitpunkt des Verwertungsbegehrens und des Pfändungsvollzugs

Zunächst rief das Bundesgericht seine Rechtsprechung zum Zeitpunkt des Verwertungsbegehrens und des Pfändungsvollzugs in Erinnerung (E. 3.1):

  • Ein Gläubiger kann die Verwertung der gepfändeten beweglichen Vermögensstücke sowie der Forderungen und der anderen Rechte frühestens einen Monat und spätestens ein Jahr, diejenige der gepfändeten Grundstücke frühestens sechs Monate und spätestens zwei Jahre nach der Pfändung verlangen (Art. 116 Abs. 1 SchKG).
  • Sowohl die Minimal- als auch die Maximalfristen beginnen mit dem Vollzug der Pfändung. War der Schuldner bei der Pfändung weder anwesend noch vertreten, so erfolgt der Vollzug erst mit der Zustellung der Pfändungsurkunde an ihn.
  • Im Gegensatz zur Maximalfrist hat der Gesetzgeber die Minimalfrist in Art. 116 Abs. 1 SchKG ausschliesslich im Interesse des Schuldners vorgesehen, um dem Schuldner die Möglichkeit zu geben, den betreibenden Gläubiger aus anderen Quellen zu befriedigen und so die drohende Verwertung abzuwenden.

Das Bundesgericht erwog, dass die Rahmenfrist, innert der das Verwertungsbegehren gestellt werden kann, im vorliegenden Fall — und entgegen dem in der Pfändungsurkunde vom 18. August 2021 angegebenen Zeitrahmen (24. Dezember 2020 bis 24. November 2021) — erst am 24. September 2021 zu laufen begann (Art. 116 Abs. 1 SchKG i.V.m. Art. 31 SchKG und Art. 142 Abs. 1 und 2 ZPO) und der Betreibungsgläubiger sein Verwertungsbegehren somit vor Ablauf der einmonatigen Wartefrist von Art. 116 Abs. 1 SchKG gestellt hat (E. 3.1).


Wirkungen eines verführten Verwertungsbegehrens

In der Folge setzte sich das Bundesgericht mit der Frage nach den Wirkungen eines verfühten Verwertungsbegehrens auseinander (E. 3.2):

  • Fortsetzungs- und Verwertungsbegehren, deren Stellung im Zeitpunkt, an welchem sie beim Betreibungsamt einlangen, gesetzlich noch nicht zulässig ist, werden nicht eingetragen, sondern dem Einsender mit der Bemerkung: «verfrüht, erst am… zulässig» zurückgeschickt (Art. 9 Abs. 2 VFRR).
  • Ausgenommen sind solche Begehren, die höchstens zwei Tage zu früh einlangen: Diese werden gleichwohl entgegengenommen und, wie die andern, in der Reihenfolge des Eingangs eingetragen. In diesem Fall wird dem Eingangsdatum das Datum des Tages beigefügt, von dem an sie zulässig sind und als gestellt gelten (Art. 9 Abs. 3 VFRR).
  • Um die mit Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR angestrebte rechtsgleiche Behandlung verfrühter Fortsetzungs- und Verwertungsbegehren zu gewährleisten, ist den kantonalen Aufsichtsbehörden zu empfehlen, den Betreibungsämtern die vorstehend dargelegten Grundsätze in geeigneter Form in Erinnerung zu rufen.

In diesem Zusammenhang erwog das Bundesgericht, dass ein verfrüht gestelltes Verwertungsbegehren insofern unwirksam ist, “als das Betreibungsamt seit je her angewiesen ist, dem Gläubiger ein mehr als zwei Tage zu früh eingetroffenes Verwertungsbegehren zurückzusenden”. Allerdings ist gemäss Bundesgericht die Minimalfrist in Art. 116 Abs. 1 SchKG für den Schuldner nicht hinsichtlich des Zeitpunkts des Verwertungsbegehrens, sondern des weiteren Fortgangs des Betreibungsverfahrens von zentraler Bedeutung: Weist das Betreibungsamt ein mehr als zwei Tage zu früh eingetroffenes Verwertungsbegehren vorschriftswidrig nicht zurück, sondern leistet es ihm bloss einstweilen keine Folge, bis es gestellt werden könnte, besteht kein Anlass, die folgenden Amtshandlungen als ungültig zu betrachten. Bei Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR handelt es sich folglich um eine blosse Ordnungsvorschrift, deren Missachtung keinen Einfluss auf die Gültigkeit der nachfolgenden Amtshandlungen hat, es sei denn, das Betreibungsamt hätte das Betreibungsverfahren gestützt auf ein vorzeitiges Fortsetzungs- oder Verwertungsbegehren selbst frühzeitig vorangetrieben (E. 3.3).

Gemäss Bundesgericht verhält sich diese Situation nämlich nicht anders, als im Falle eines vorzeitigen Fortsetzungsbegehrens (Art. 88 SchKG): Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung liegt keine Verletzung von Art. 159 SchKG vor, wenn das Betreibungsamt ein verfrühtes Fortsetzungsbegehren zwar nicht zurückgewiesen, aber diesem immerhin einstweilen keine Folge geleistet hat, und die zur gesetzlichen Zeit erfolgte Konkursandrohung (auch auf rechtzeitige Beschwerde nach Art. 17 SchKG hin) ist nicht aufzuheben (E. 3.3).

Im vorliegenden Fall verneinte das Bundesgericht eine Verletzung von Art. 116 Abs. 1 SchKG, da das Betreibungsamt nach Eingang des Verwertungsbegehrens über ein Jahr zugewartet hatte und dem Schuldner statt der gesetzlichen Schonfrist von einem Monat ca. 14 Monate zur Verfügung standen, um die in Betreibung gesetzte Forderung samt Zinsen und Kosten “doch noch aus eigenem Antrieb zu begleichen” (E. 3.3).

23.3.24

7B_155/2024: Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr (amtl. Publ.)

7B_155/2024: Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr (amtl. Publ.)

von David Meirich am 23. März 2024

Im 7B_155/2024 vom 5. März 2024 beurteilte das Bundesgericht die Beschwerde gegen einen Haftprüfungsentscheid. Der Beschwerdeführer befand sich im Rahmen einer Strafuntersuchung wegen vorsätzlicher Tötung und weiterer Delikte in Untersuchungshaft. Sein Haftentlassungsgesuch hatte das Zwangsmassnahmengericht wegen qualifizierter Wiederholungsgefahr bis (längstens) zur Anklageerhebung abgewiesen, was vom Obergericht bestätigt wurde.

Dem Beschuldigten wird im Wesentlichen vorgeworfen, eine Person im Verlauf einer kurzen Diskussion mit mehreren Messerstichen in den Oberkörper sowie am Hals niedergestochen zu haben, woraufhin das Opfer diesen Stichverletzungen noch vor Ort erlegen sei.

Untersuchungs- und Sicherheitshaft sind ausnahmsweise zulässig, wenn: (a.) die beschuldigte Person dringend verdächtig ist, durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt zu haben; und (b.) die ernsthafte und unmittelbare Gefahr besteht, die beschuldigte Person werde ein gleichartiges, schweres Verbrechen verüben (Art. 221 Abs. 1bis StPO).

Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO setzt zunächst eine untersuchte qualifizierte Anlasstat voraus, nämlich den dringenden Verdacht, dass die beschuldigte Person durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt hat. Diese gesetzliche Voraussetzung war im vorliegenden Fall unbestritten. Weiter verlangt der Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr als Prognoseelement die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges “schweres Verbrechen” verüben werde. Zwar wurde in der bisherigen Bundesgerichtspraxis nicht wörtlich vom Erfordernis einer “ernsthaften und unmittelbaren” Gefahr (von neuen Schwerverbrechen) gesprochen. Es bestand aber in diesem Sinne schon altrechtlich eine restriktive Haftpraxis, indem das Bundesgericht ausdrücklich betonte, qualifizierte Wiederholungsgefahr komme nur in Frage, wenn das Risiko von neuen Schwerverbrechen als “untragbar hoch” erschiene. Bei der konkreten Prognosestellung wird im Übrigen weiterhin dem Umstand Rechnung zu tragen sein, dass bei qualifizierter Wiederholungsgefahr Schwerverbrechen drohen. Bei einfacher und qualifizierter Wiederholungsgefahr geht die Bundesgerichtspraxis von einer sog. “umgekehrten Proportionalität” aus zwischen Deliktsschwere und Eintretenswahrscheinlichkeit. Bei ernsthaft drohenden schweren Gewaltverbrechen kann auch nach neuem Recht keine sehr hohe Eintretenswahrscheinlichkeit verlangt werden. Die richterliche Prognosebeurteilung stützt sich dabei auf die konkreten Umstände des Einzelfalls (E. 3.6.2).

Im vorliegenden Fall war eine ausreichend erhebliche (ernsthafte und unmittelbare) Wahrscheinlichkeit für neue schwere Gewaltverbrechen zu bejahen. Die Vorinstanz durfte damit namentlich der im psychiatrischen Gutachten festgestellten “mittelgradigen” Rückfallgefahr, der gutachterlich diagnostizierten psychischen Auffälligkeit und Unberechenbarkeit des Beschwerdeführers, der besonderen (gewaltexzessiven) Brutalität des von ihm unbestrittenermassen verübten Tötungsdelikts, seiner auffälligen Vorliebe für Waffen, der von ihm in Internet-Chats geäusserten weiteren Gewaltbereitschaft, seiner Affinität für sadistische Darstellungen von brutaler Gewalt oder auch den dargelegten Anzeichen für eine massive Suchtmittelproblematik Rechnung tragen (E. 3.6.3). Das Bundesgericht bestätigte damit den Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr, weshalb es die Beschwerde abwies (E. 3.8).

23.3.24

6B_962/2023: Gericht muss Legalprognose umfassend prüfen

6B_962/2023: Gericht muss Legalprognose umfassend prüfen

von David Meirich am 23. März 2024

Im Urteil 6B_962/2023 vom 26. Februar 2024 prüfte das Bundesgericht eine Beschwerde gegen den Widerruf des bedingten Vollzugs einer unbedingten Freiheitsstrafe wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Der Beschwerdeführer hatte noch vor Abschluss des ursprünglichen Verfahrens erneut mit dem Aufbau einer Indooranlage zur Aufzucht von Marihuana-Pflanzen begonnen.

Für die Gewährung des bedingten Strafvollzugs im Rahmen von Art. 42 Abs. 1 StGB genügt die Abwesenheit der Befürchtung, der Täter werde weitere Verbrechen oder Vergehen begehen. Vom Strafaufschub darf deshalb grundsätzlich nur bei ungünstiger Prognose abgesehen werden (E. 2.3.2).  Delinquiert die verurteilte Person während der Probezeit und ist deshalb zu erwarten, dass sie weitere Straftaten verüben wird, so widerruft das Gericht die bedingte Strafe (E. 2.3.3).

Ein während der Probezeit begangenes Verbrechen oder Vergehen führt nicht zwingend zum Widerruf des bedingten Strafaufschubs (Art. 46 Abs. 2 StGB). Dieser soll nach Art. 46 Abs. 1 StGB nur erfolgen, wenn wegen der erneuten Straffälligkeit eine eigentliche Schlechtprognose besteht. Die mit der Gewährung des bedingten Vollzugs abgegebene Prognose über das zukünftige Verhalten des Täters ist unter Berücksichtigung der neuen Straftat frisch zu formulieren (E. 2.3.3).

Bei der Prüfung des künftigen Wohlverhaltens bzw. der Bewährungsaussichten sind alle wesentlichen Umstände zu beachten. Zu berücksichtigen sind neben den Tatumständen namentlich das Vorleben und der Leumund sowie alle weiteren Tatsachen, die gültige Schlüsse auf den Charakter des Täters und die Aussichten seiner Bewährung zulassen. Ein relevantes Prognosekriterium ist insbesondere die strafrechtliche Vorbelastung, die Sozialisationsbiografie, das Arbeitsverhalten oder das Bestehen sozialer Bindungen. Dabei sind die persönlichen Verhältnisse bis zum Zeitpunkt des Entscheids miteinzubeziehen. Es ist unzulässig, einzelnen Umständen eine vorrangige Bedeutung beizumessen und andere zu vernachlässigen oder überhaupt ausser Acht zu lassen (E. 2.3.4).

Bestehen insbesondere aufgrund von Vorstrafen erhebliche Bedenken an der Legalbewährung des Täters, ist zu prüfen, ob ein (teilweiser) Vollzug einer der Strafen eine genügende Warnwirkung erzielt, was vorliegend zutraf (E. 2.4.2). Als begründet erwies sich nach Bundesgericht auch die Rüge, dass die Vorinstanz bei der Prüfung des Widerrufs keine ausgewogene Würdigung aller für die Legalprognose relevanten Umstände vornahm, sondern die Schlechtprognose hauptsächlich auf die erneute einschlägige Delinquenz während des hängigen Verfahrens stützte (E. 2.4.3).

Im Ergebnis überschritt die Vorinstanz damit vorliegend ihr Ermessen und verletzte Bundesrecht, indem sie in jeder Hinsicht von einer negativen Legalprognose ausging, sowohl den bedingten als auch den teilbedingten Vollzug der neu ausgefällten Freiheitsstrafe verweigerte und den für die frühere Geldstrafe gewährten bedingten Vollzug widerrief. Dabei liess sie gemäss Bundesgericht insbesondere massgebende Prognosekriterien unberücksichtigt und begründete nicht hinreichend, dass bzw. weshalb der Vollzug einer Strafe bzw. eines Teils einer Strafe nicht genügen würde, um den Beschwerdeführer von weiteren Straftaten abzuhalten (E. 2.4.4). Das Bundesgericht hiess die Beschwerde somit gut (E. 3).

23.3.24

7B_13/2021: Notwehrexzess durch Schusswaffengebrauch

7B_13/2021: Notwehrexzess durch Schusswaffengebrauch

von David Meirich am 23. März 2024

Im Urteil 7B_13/2021 vom 5. Februar 2024 entschied das Bundesgericht über die Beschwerde eines Landwirts gegen seine Verurteilung wegen versuchter schwerer Körperverletzung,
Betäubungsmitteldelikten und weiterer Straftaten. Die Vorinstanz hatte den Beschwerdeführer zu 46 Monaten Freiheitsstrafe, einer Geldstrafe und einer Busse verurteilt.

Eine Personengruppe war auf den Hof des Landwirts eingedrungen, wo dieser Hanf anbaute. Der Landwirt versuchte mit Helfern die Eindringlinge zu vertreiben. Einen der Flüchtenden brachte er zu Fall, fesselte ihn und sperrte ihn in den Keller. Als seine Komplizen versuchten, ihren Kollegen zu befreien, lud der Landwirt seine Schusswaffe mit Hasenschrotpatronen. Eine Person stach ihm in der Folge mit einer Mistgabel in die Hand. Als die Eindringlinge die Waffe bemerkten, ergriffen sie die Flucht. Daraufhin gab der Hanfbauer unvermittelt und unkontrolliert einen Schuss auf die Personengruppe ab.

Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren (Art. 15 StGB; “rechtfertigende Notwehr”). Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn der Angriff bereits vorbei oder noch nicht zu erwarten ist (E. 3.3.1).

Ein Fall von Putativnotwehr liegt vor, wenn der Täter einem Sachverhaltsirrtum unterliegt, indem er irrtümlich annimmt, es sei ein rechtswidriger Angriff im Sinne von Art. 15 StGB gegenwärtig oder unmittelbar bevorstehend. Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zugunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich dieser vorgestellt hat (Art. 13 Abs. 1 StGB) (E. 3.3.2).

Art. 16 StGB regelt die “entschuldbare Notwehr”: Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr, so mildert das Gericht die Strafe (Abs. 1). Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr in entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung über den Angriff, so handelt er nicht schuldhaft (Abs. 2).

Die Abwehr in einer Notwehrlage muss nach der Gesamtheit der Umstände verhältnismässig erscheinen. Eine Rolle spielen insbesondere die Schwere des Angriffs, die durch den Angriff und die Abwehr bedrohten Rechtsgüter, die Art des Abwehrmittels und dessen tatsächliche Verwendung. Die Angemessenheit der Abwehr ist anhand jener Situation zu beurteilen, in der sich der rechtswidrig Angegriffene im Zeitpunkt seiner Tat befand. Angemessen ist die Abwehr, wenn der Angriff nicht mit weniger gefährlichen und zumutbaren Mitteln hätte abgewendet werden können, der Täter womöglich gewarnt worden ist und der Abwehrende vor der Benutzung des gefährlichen Werkzeugs das Nötige zur Vermeidung einer übermässigen Schädigung vorgekehrt hat. Auch ist eine Abwägung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter unerlässlich. Doch muss deren Ergebnis für den Angegriffenen, der erfahrungsgemäss rasch handeln muss, mühelos erkennbar sein. Der unvermittelte Gebrauch einer Schusswaffen kann grundsätzlich nur das letzte Verteidigungsmittel sein (E. 3.3.3).

Im konkreten Fall hatte das Eindringen auf den Hof des Landwirts dessen Hausrecht verletzt. Dies stellte für sich allein noch keine Gefahr für Leib und Leben dar. Eine Gefahr bestand zwar beim späteren Angriff mit der Mistgabel – jedoch nicht mehr bei der darauffolgenden Schussabgabe. Die Eindringlinge hatten sich zuvor bereits entfernt und Deckung gesucht. Mit der unvermittelten und unkontrollierten Schussabgabe auf die nur wenige Meter entfernten Personen überschritt der Landwirt sein Recht auf Notwehr erheblich (E. 3.4.2). Zwar war er im fraglichen Zeitpunkt noch emotional aufgewühlt. Die beim Mistgabel-Angriff bestehende Notwehrlage war jedoch bereits beendet (E. 3.5.3). Das Bundesgericht wies die Beschwerde des Landwirts daher ab (E. 6).

12.3.24

5A_176/2023: Abänderung des Kindesunterhalts wegen Mehreinkommens des betreuenden Elternteils (amtl. Publ.)

5A_176/2023: Abänderung des Kindesunterhalts wegen Mehreinkommens des betreuenden Elternteils (amtl. Publ.)

von Jean-Michel Ludin am 12. März 2024

Gemäss bisheriger Rechtsprechung durften Kindesunterhaltsbeiträge wegen erhöhten Einkommens des betreuenden Elternteils nur abgeändert werden, wenn ansonsten ein unzumutbares finanzielles Ungleichgewicht zwischen den Eltern entstanden wäre. Das Bundesgericht stellt im Urteil 5A_176/2023 vom 9. Februar 2024 nun erstmals klar, dass diese Voraussetzung nicht für die Abänderung des Betreuungsunterhalts gilt.

Zusammenfassung

Im hier besprochenen Fall verlangte der unterhaltspflichtige Vater wegen erhöhten Erwerbseinkommens der betreuenden Mutter unter anderem, dass der im Scheidungsurteil festgesetzte Betreuungsunterhalt herabzusetzen sei. Das Obergericht Zürich wies den Antrag ab. Es erwog, ein erhöhtes Einkommen des hauptbetreuenden Elternteils solle nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung dem Kind zugutekommen, sofern der unterhaltspflichtige Elternteil nicht übermässig schwer belastet sei. Diese Rechtsprechung sei zwar zum alten Recht ergangen, habe jedoch auch nach Einführung des Betreuungsunterhalts uneingeschränkt Geltung. Vorliegend sei der Vater, wenn man die von ihm errechneten Überschüsse betrachte, im Vergleich zur Mutter nicht übermässig belastet. Eine Abänderung des Betreuungsunterhalts komme daher nicht in Frage. Dagegen gelangte der Vater an das Bundesgericht. 

Das Bundesgericht erwog, der Betreuungsunterhalt sei formell als Anspruch des Kindes ausgestaltet, komme jedoch wirtschaftlich dem betreuenden Elternteil zu. Dieser Umstand spreche dagegen, Mittel, die zufolge Erhöhung des Einkommens des betreuenden Elternteils frei werden, dem Kind zu belassen. Damit wäre eine wirtschaftliche Neuzuordnung des entsprechenden Betrags verbunden, die sich nicht rechtfertigen liesse (E. 5.3.1).

Da sich der Betreuungsunterhalt aus der Differenz zwischen dem familienrechtlichen Grundbedarf und dem Nettoeinkommen des betreuenden Elternteils errechne, schlage sich ein erhöhtes Einkommen des betreuenden Elternteils unmittelbar in der Höhe des geschuldeten Unterhalts nieder. Bei einer wesentlichen Änderung der Einkommenshöhe sei es daher nicht gerechtfertigt, den Unterhalt in der alten Höhe zu belassen (E. 5.3.2).

Der Betreuungsunterhalt solle die Nachteile ausgleichen, die dem betreuenden Elternteil durch die Kinderbetreuung erwachsen. Vermöge der betreuende Elternteil zufolge eines gesteigerten Einkommens seinen Grundbedarf neu ganz oder in erheblich grösserem Umfang selbst zu decken, bestehe kein Grund mehr, weiterhin Betreuungsunterhalt auszurichten. Daher dürfe in diesem Fall eine Abänderung des Betreuungsunterhalts nicht prinzipiell ausgeschlossen werden. Vielmehr habe eine Anpassung des Betreuungsunterhalts zu erfolgen, sofern die eingetretene Änderung dauerhaft und wesentlich sei. Eine weitergehende Gesamtbetrachtung erweise sich beim Betreuungsunterhalt als unzulässig (E. 5.3.3). 

Anderes gelte beim Barunterhalt, der die (direkten) Kosten für das Kind abdecke. Bei dessen Festsetzung könne den Besonderheiten des Einzelfalls angemessen Rechnung getragen werden, womit auch Raum für eine auf die Umstände des Einzelfalls abgestimmte Verbesserung der Stellung des Kindes bestehe (E. 5.3.1). 

Kommentar

Das Bundesgericht hat seine Rechtsprechung zur Abänderung der Kindesunterhaltsbeiträge wegen verbesserter finanzieller Verhältnisse des betreuenden Elternteils vor der Einführung des Betreuungsunterhalts entwickelt. Ob diese Rechtsprechung auch mit Bezug auf den neu eingeführten Betreuungsunterhalt gilt, hatte das Bundesgericht bis anhin nicht entschieden. Es klärt somit erstmals, dass der Frage, ob die verbesserten finanziellen Verhältnisse des betreuenden Elternteils zu einem unzumutbaren finanziellen Ungleichgewicht zwischen den Elternteilen führen, bei der Abänderung des Betreuungsunterhalts keine Bedeutung zukommt.

Das Urteil überzeugt. Vor der Einführung des Betreuungsunterhalts wurden betreuungsbedingte Einkommensverluste über den (nach-)ehelichen Unterhalt ausgeglichen. Der Kindesunterhalt beschränkte sich auf den Barunterhalt, also die direkten Kosten des Kindes. Entsprechend hatte eine verbesserte finanzielle Situation des betreuenden Elternteils keine Auswirkungen auf die Höhe der Kindesunterhaltsbeiträge. Der Barunterhalt ist grundsätzlich vom nichtbetreuenden Elternteile alleine zu tragen. Entsprechend konnten verbesserte finanzielle Verhältnisse des betreuenden Elternteils nur ausnahmsweise zu einer Neuverteilung des Kindesunterhalts führen. Es war daher gerechtfertigt, die Abänderung wegen verbesserte finanzieller Verhältnisse des betreuenden Elternteils nur restriktiv zuzulassen. Neu ist der Betreuungsunterhalt Teil des Kindesunterhalts. Entsprechend wirkt sich die verbesserte finanzielle Situation des betreuenden Elternteils direkt auf die Höhe des Kindesunterhalts und nicht mehr nur auf die Verteilung des Unterhalts auf die Eltern aus. Entsprechend ist die restriktive Abänderungspraxis beim Betreuungsunterhalt nicht mehr angemessen. 

Zu beachten ist allerdings, dass bei einer Reduktion des Betreuungsunterhalts auf Seiten des nichtbetreuenden Elternteils zusätzliche Mittel frei werden und sich entsprechend dessen Überschuss erhöht. Das Kind ist an diesem zusätzlichen Überschuss zu beteiligen. Sofern der erhöhte Überschussanteil den reduzierten Betreuungsunterhalt ganz oder nahezu kompensiert, ist das Abänderungsgesuch abzuweisen: Bei einer geringfügigen Differenz zwischen dem ursprünglichen und dem aktualisierten monatlichen Unterhaltsbeitrag, ist keine Abänderung angezeigt (LGVE 2023 II Nr. 1 E. 4.4.1.). 

4.3.24

5A_169/2023: Voraussetzungen für die Verlängerung der definitiven Nachlassstundung gemäss Art. 295b Abs. 1 SchKG (amtl. Publ.)

5A_169/2023: Voraussetzungen für die Verlängerung der definitiven Nachlassstundung gemäss Art. 295b Abs. 1 SchKG (amtl. Publ.)

von Stéphanie Oneyser am 4. März 2024

In diesem zur Publikation vorgesehenen Entscheid 5A_169/2023 vom 12. Januar 2024 hatte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die definitive Nachlassstundung über 12 Monate hinaus gemäss Art. 295b Abs. 1 SchKG verlängert werden darf, wenn die Sachwalter keinen Verlängerungsantrag gestellt haben. Das Bundesgericht erwog, dass eine solche Verlängerung ohne Antrag der Sachwalter ausgeschlossen ist.

 Dem Entscheid lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Die A AG (Schuldnerin), mit Sitz im Kanton St. Gallen, ist eine Tochtergesellschaft der D AG, mit Sitz im Kanton Appenzell Ausserhoden. Die Revisionsstelle beider Gesellschaften benachrichtigte am 20. Mai 2021 infolge offensichtlicher Überschuldung das Kreisgericht Wil/SG und das Kantonsgericht Appenzell Ausserrhoden. Mit Verfügung vom 10. Juni 2021 übernahm das Kantonsgericht Appenzell Ausserrhoden (gestützt auf Art. 4a Abs. 2 SchKG) das Verfahren betreffend die Schuldnerin.

Mit Verfügung vom 12. Juli 2021 stellte das Kantonsgericht Appenzell Ausserrhoden die Überschuldung der Schuldnerin fest, setzte den Entscheid über den Konkurs aus und gewährte der Schuldnerin für die Dauer von vier Monaten die provisorische Nachlassstundung. Am 11. November 2021 wurde die definitive Nachlassstundung für die Dauer von sechs Monaten bewilligt; am 11. Mai 2022 wurde die Stundung auf Antrag der Sachwalter um weitere sechs Monate bis 12. November 2022 verlängert.

Mit Schreiben vom 8. November 2022 stellten die definitiven Sachwalter zusammen mit ihrer Berichterstattung den Antrag auf Widerruf der Nachlassstundung und auf Eröffnung des Konkurses. Am 11. November 2022 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Nachlassgericht statt, wobei die Organe der Schuldnerin die Verlängerung der Nachlassstundung verlangten.

Mit Verfügung vom 14. November 2022 widerrief das Kantonsgericht die Nachlassstundung. Gleichzeitig wurde angeordnet, dass im Fall der Vollstreckbarkeit der Verfügung über die Schuldnerin der Konkurs eröffnet werde, wobei mittels separater Verfügung die dafür erforderlichen weiteren Vorkehrungen (Zeitpunkt der Konkurseröffnung, Publikation usw.) anzuordnen seien.

Die Beschwerde der Schuldnerin wies das Obergericht mit Urteil vom 24. Februar 2023 ab. Das Obergericht hob die Anordnungen der Vorinstanz auf und eröffnete über die A AG mit Wirkung ab 24. Februar 2023, 14 Uhr, den Konkurs.

Dagegen erhob die Schuldnerin mit Eingabe vom 2. März 2023 und Ergänzung vom 29. März 2023 Beschwerde beim Bundesgericht. Mit Präsidialverfügung vom 23. März 2023 wurde der Beschwerde in dem Sinne aufschiebende Wirkung erteilt, als dass die Konkurseröffnung über die Beschwerdeführerin aufgehoben und die Nachlassstundung für die Dauer des Rechtsmittelverfahrens verlängert wird, wobei die bisherigen Sachwalter eingesetzt bleiben. Mit instruktionsrichterlicher Verfügung vom 10. November 2023 wurde die aufschiebende Wirkung (gemäss Verfügung vom 23. März 2023) für das weitere bundesgerichtliche Verfahren bestätigt.

Mit Entscheid vom 12. Januar 2024 wies das Bundesgericht die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat, und setzte das Datum der Konkurseröffnung neu auf 12. Januar 2024, 15 Uhr, fest.


Antragsberechtigung für die Verlängerung der definitiven Stundung gemäss Art. 295b Abs. 1 SchKG

Das Bundesgericht stellte zunächst fest, dass es zur Frage der Verlängerung der definitiven Stundung gemäss Art. 295b Abs. 1 SchKG noch nicht Stellung nehmen musste. Nach der kantonalen Rechtsprechung (Genf und Obergericht Bern) kann einzig der Sachwalter gestützt auf Art. 295b SchKG die Verlängerung der definitiven Nachlassstundung verlangen. Bei Fehlen des entsprechenden Antrages des Sachwalters wird die Möglichkeit der Verlängerung der definitiven Nachlassstundung ausgeschlossen und der Konkurs von Amtes wegen eröffnet (E. 3.3.1).

In diesem Zusammenhang erwog das Bundesgericht, dass die kantonale Praxis im Einklang mit der einhelligen Lehrmeinung steht, wonach einzig der Sachwalter – unter Ausschluss des Schuldners und des Gläubigers – zur Verlängerung nach Art. 295b SchKG antragsberechtigt ist (E. 3.3.2).

In der Folge nahm das Bundesgericht eine Auslegung von Art. 295b Abs. 1 SchKG vor und bestätigte im Ergebnis, dass eine Verlängerung der Stundung gemäss Art. 295b Abs. 1 SchKG einen Antrag der Sachwalter voraussetzt. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass es sich nicht um eine Lücke handelt, dass der Schuldner und Gläubiger in Art. 295b SchKG nicht aufgeführt werden; dies war auch vor der Revision des Sanierungsrechts im Jahre 2013 der Fall (E. 3.4.1–3.5.2).


Unterschied zwischen Art. 293a Abs. 1, Art. 294 und Art. 295b SchKG

Ferner verneinte das Bundesgericht eine planwidrige Unvollständigkeit in Art. 295b SchKG im Zusammenhang mit anderen Bestimmungen zur Regelung der Stundungsdauer. Es rief in Erinnerung, dass sich die Verlängerung der provisorischen Stundung von derjenigen der definitiven Stundung unterscheidet:

Im Unterschied zur definitiven Stundung kann die provisorische Stundung, die lediglich der Vorbereitung des Entscheides über die definitive Stundung bzw. der Klärung der Frage dient, ob überhaupt Aussicht auf Sanierung oder Bestätigung eines Nachlassvertrages besteht (Art. 294 Abs. 1 SchKG), “auf Antrag” (Art. 293a Abs. 1 SchKG) bis auf vier Monate, “auf Antrag des Sachwalters oder, wenn kein solcher eingesetzt worden ist, des Schuldners” weiter um vier Monate verlängert werden (Art. 293a Abs. 2 SchKG) (E. 3.6.1).

Die definitive Stundung wird vom Nachlassgericht für die begrenzte Dauer von vier bis sechs Monaten bewilligt (Art. 294 Abs. 1 SchKG) (E. 3.6.2):

  • Wenn das Nachlassgericht eine definitive Stundung von weniger als sechs Monaten bewilligt hat und sich dies als nicht ausreichend erweist, so richtet sich das Verfahren nach  294 SchKG. Ist die Dauer der definitiven Stundung von sechs Monaten noch nicht ausgeschöpft, so können Antragssteller zur Verlängerung der Schuldner und gegebenenfalls der Gläubiger sein; der Sachwalter muss den Antrag nicht selber stellen. Während dieses Zeitraums geht es primär um die Korrektur des Entscheides des Nachlassgerichts nach Art. 294 SchKG über die erstmalige definitive Stundungsdauer, die mit dem Zeitdruck von sechs Monaten verbunden ist.
  • Wenn eine definitive Stundung über sechs bzw. zwölf Monate hinaus dauern soll, kommt Art. 295b SchKG zur Anwendung. Ein Antrag des Sachwalters zur Verlängerung der definitiven Stundung ist insofern erforderlich, weil sich der gewollte Zeitdruck, den das Gesetz mit der Begrenzung auf sechs Monate festgelegt hat, als unwirksam erwiesen hat.

Keine Verlängerung ohne Antrag trotz Offizial- und Untersuchungsmaxime

Schliesslich bestätigte das Bundesgericht, dass die Verlängerung gemäss Art. 295b Abs. 1 SchKG nur auf Antrag der Sachwalter mit den verfahrensrechtlichen Grundsätzen übereinstimmt. Es trifft zwar zu, dass das gerichtliche Nachlassverfahren als Verfahren bezeichnet wird, welches weitgehend der Offizialmaxime unterliegt. Diverse Bestimmungen sehen ausdrücklich Anordnungen des Nachlassgerichts “von Amtes wegen” vor, d.h. auch ohne Antrag (Art. 293a Abs. 1 und 3 SchKG; Art. 294 Abs. 1 und Abs. 3 SchKG). Das Gesetz macht allerding bestimmte Entscheide des Nachlassgerichts von einem Antrag abhängig, insbesondere wenn es um die Verlängerung der (provisorischen bzw. definitiven) Stundung geht (Art. 293a Abs. 1 SchKG; Art. 293a Abs. 2 SchKG; Art. 295b Abs. 1 SchKG) (E. 3.7.1).


Frage nach den Wirkungen des nicht rechtzeitig gestellten Antrags implizit offen gelassen

Das Bundesgericht liess die Frage implizit offen, ob ein nicht rechtzeitig (vor Ablauf der Stundungsdauer) gestellter Antrag zu den gleichen Wirkungen wie ein fehlender Antrag der Sachwalter führt (E. 4).


Neue Ansetzung des Zeitpunkts der Konkurseröffnung

Aus diesen Gründen wies das Bundesgericht die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat. Da der Beschwerde an das Bundesgericht die aufschiebende Wirkung erteilt wurde, hatte das Bundesgericht den Zeitpunkt der Konkurseröffnung neu festzusetzen (E. 5).

13.2.24

4A_368/2023: Missbräuchliche Kündigung; keine Anwendbarkeit der strafprozessualen Grundsätze bei internen Untersuchungen

4A_368/2023: Missbräuchliche Kündigung; keine Anwendbarkeit der strafprozessualen Grundsätze bei internen Untersuchungen

von Patricia Meier am 13. Februar 2024

Im Urteil 4A_368/2023 vom 19. Januar 2023 befasste sich das Bundesgericht mit der Kündigung einer Bank (Arbeitgeberin und Beschwerdeführerin) gegenüber einem Director (Arbeitnehmer und Beschwerdegegner), welcher nach durchgeführter interner Untersuchung zur Abklärung von Vorwürfen sexueller Belästigung entlassen worden war. Der Arbeitnehmer hatte die Kündigung angefochten, weil er die Art und Weise derselben als missbräuchlich erachtete (E. 3).

Die erste Instanz habe erwogen, dass es unerheblich sei, ob die Vorwürfe der sexuellen Belästigung zuträfen — relevant sei nur ob die Beschwerdeführerin die Vorwürfe genügend untersucht habe, was diese bejahte (E. 3.2). Demgegenüber gelangte die Vorinstanz in Anlehnung an die strafprozessualen Grundsätze zur  Ansicht, der Beschwerdegegner hätte sich nicht genügend wehren bzw. wirksam gegen die Vorwürfe verteidigen können (E. 3.2).

Das Bundesgericht stellte zunächst klar, dass die Vorinstanz das herangezogene Urteil 4A_694/2016 vom 4. Mai 2016 zu weit interpretiert habe und die strafprozessualen Garantien keine direkte Wirkung auf interne Untersuchungen eines Arbeitgebers haben (E. 4.1).  Die Übernahme strafprozessualer Regeln ins Privatrecht verbiete sich schon aufgrund der grundlegenden Unterschiede der Rechtsverhältnisse; während die Parteien eines Arbeitsverhältnisses dieses Dauerschuldverhältnis freiwillig eingingen, werde eine beschuldigte Person im Strafverfahren unabhängig von ihrem Willen der staatlichen Strafgewalt und der autoritativen Buss- und Strafkompetenz unterworfen. In keinem anderen Rechtsgebiet seien einschneidendere Eingriffe in die Grundrechte denkbar, wohingegen vorliegend im Bereich des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz dem Arbeitnehmer schlimmstenfalls eine ordentliche Kündigung drohe (E. 4.1).

Nach den unbestrittenen vorinstanzlichen Feststellungen, so das Bundesgericht, habe sich Ende August 2018 eine Mitarbeiterin der Beschwerdeführerin an deren Ombudsstelle für Verhalten und Ethik gewandt und sexuelle Belästigungen durch den Beschwerdegegner gemeldet. In der Folge seien nebst dieser Mitarbeiterin weitere Personen im Umfeld des Beschwerdegegners befragt und ein Teil seiner elektronischen Kommunikation hinsichtlich Äusserungen über die angeblich belästigte Mitarbeiterin untersucht worden. Sodann sei der Beschwerdegegner am 20. September 2018 angehört und ihm danach das Protokoll zur Durchsicht zugestellt worden. Er hätte daran diverse Änderungen vorgenommen. Nach seiner Anhörung sei die Beschwerdeführerin zum Schluss gekommen, dass die Aussagen des Beschwerdegegners wenig glaubhaft seien und im Widerspruch zu den Aussagen der anderen befragten Personen stünden. Insgesamt befand sie, dass die von der anzeigenden Mitarbeiterin und weiteren Mitarbeitenden beschriebenen, unangemessenen Verhaltensweisen mit grosser Wahrscheinlichkeit stattgefunden hätten. Im Untersuchungsbericht sei deshalb die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen den Beschwerdegegner empfohlen worden, woraufhin die zuständige Disziplinarstelle Mitte Oktober die ordentliche Kündigung des Beschwerdegegners beschlossen habe, welche Ende Oktober 2018 ausgesprochen worden sei (E. 4.3).

Im Zusammenhang mit dem Vorgehen bei der Durchführung der internen Untersuchung erwog das Bundesgericht, dass es entgegen der Vorinstanz nicht zu beanstanden sei, dass der Beschwerdegegner erst zu Beginn des Gesprächs über dessen Zweck und Inhalt informiert worden sei. Zudem habe der Beschwerdegegner das Gesprächsprotokoll korrigieren und eine separate schriftliche Stellungnahme dazu abgeben können (E. 4.4.1).

Weiter erwog das Bundesgericht, dass die Vorinstanz der Beschwerdeführerin zu Unrecht vorgeworfen habe, dass der Beschwerdegegner sich beim Gespräch im September nicht gemäss internem Merkblatt von einer Vertrauensperson habe begleiten lassen können. Es genüge sogar nach — den vorliegend nicht anwendbaren — strengen strafprozessualen Grundsätzen, die beschuldigte Person erst zu Beginn der ersten Einvernahme auf ihr Recht zur Verteidigung hinzuweisen und nur schon deshalb könne das Fehlen einer Vertrauensperson keinen derart gravierenden Mangel darstellen, dass die Kündigung missbräuchlich erscheine. Dies gelte umso mehr, als der Beschwerdegegner nicht behaupte, ein weiteres Gespräch in Anwesenheit einer Vertrauensperson verlangt zu haben (E. 4.4.2).

In Anlehnung an das Anklageprinzip, so das Bundesgericht, habe die Vorinstanz der Beschwerdeführerin weiter vorgeworfen, den Beschwerdegegner nicht hinreichend über die ihm gegenüber erhobenen  Vorwürfe aufgeklärt zu haben. Sie verlange von der Beschwerdeführerin, dass sie dem Beschwerdegegner genau hätte mitteilen müssen, wann er wen, wo und wie sexuell belästigt habe. Das Bundesgericht erwog erneut, dass die interne Untersuchung eines privaten Arbeitgebers nicht mit einer staatlichen Strafuntersuchung zu vergleichen sei. Im Übrigen bestehe ein Zielkonflikt zwischen dem legitimen Selbstverteidigungsrecht des beschuldigten Arbeitnehmers und dem Schutz der meldenden Personen. In der Lehre sei unbestritten, dass deren Identität vertraulich zu behandeln sei; jedenfalls stehe aufgrund möglicher Repressalien ausser Frage, dass die Identität der meldenden Person gegenüber dem beschuldigten Arbeitnehmer geheim zu halten sei. Diskutiert werde bloss, ob die Meldung auf anonymer Basis erstattet werden könne oder ob die Personalien zumindest der Meldestelle bekannt sein müssten (E. 4.4.4).

Es sei, so das Bundesgericht, in Übereinstimmung mit den Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht zutreffend, dass die Vorwürfe gegenüber dem Beschwerdegegner völlig vage geblieben seien. Die Beschwerdeführerin habe dargelegt, dass dem Beschwerdegegner der Vorwurf eröffnet worden sei, er habe bei einem Firmenanlass im November 2017 Mitarbeiterinnen in ungebührlicher Weise berührt. Weiter sei er gefragt worden, ob er Mitarbeiterinnen im Büro umarmt sowie am Oberschenkel oder am Rock berührt habe, ob er sich zu den privaten und sexuellen Beziehungen von Mitarbeiterinnen geäussert habe, ob er gegenüber Mitarbeiterinnen gesagt habe, dass er gerne körperliche Nähe mit ihnen hätte oder ob er gesagt habe, dass er es bevorzuge, wenn Frauen High Heels und kurze Röcke tragen. Damit habe die Beschwerdeführerin gemäss Bundesgericht überzeugend vorgetragen, dass die Vorwürfe gemessen an den Anforderungen an eine interne Untersuchung hinreichend präzis waren. Im Gegensatz zum Strafrecht, wo es keine “Verdachtsverurteilungen” gäbe, seien im Arbeitsrecht Verdachtskündigungen zulässig und nicht einmal dann missbräuchlich, wenn sich der Verdacht später als unbegründet erweise. Folglich müsse der Arbeitgeber nicht beweisen, dass die Vorwürfe zuträfen (E. 4.4.4).

Die Abklärung der Vorwürfe sei damit umfangreich genug und durch ein eigens dafür vorgesehenes Team durchgeführt worden, wobei die Beschwerdeführerin zum Schluss gekommen sei, dass sich der Verdacht gegen den Beschwerdegegner erhärtet habe. Es könne daher nicht gesagt werden, dass die Beschwerdeführerin die ordentliche Kündigung leichtfertig oder ohne vernünftige Gründe ausgesprochen habe. Weiter hält das Bundesgericht klar fest (E. 4.5):

Die Vorinstanz scheint aus den Augen zu verlieren, dass auch im Arbeitsrecht das Prinzip der Kündigungsfreiheit gilt. Es bedarf grundsätzlich keiner besonderen Gründe, um zu kündigen. Ihre Grenzen findet die Kündigungsfreiheit nur im Missbrauchsverbot. Die Vorinstanz beurteilte die interne Untersuchung der Beschwerdeführerin mit einem überzogenen Massstab, der über die strafprozessualen Anforderungen hinausging. Sie verlangte von der Beschwerdeführerin teilweise mehr als von einer Strafverfolgungsbehörde gefordert werden dürfte.

Demnach, so das Bundesgericht, habe die Vorinstanz Bundesrecht verletzt, indem sie die Kündigung als missbräuchlich beurteilt habe (E. 4.5).

17.1.24

Tapetenwechsel: Beschwerden i.Z.m. der Rechtsöffnung vor Bundesgericht ab 1. Januar 2024

Tapetenwechsel: Beschwerden i.Z.m. der Rechtsöffnung vor Bundesgericht ab 1. Januar 2024

von Stéphanie Oneyser am 17. Januar 2024

Ab dem 1. Januar 2024 werden Beschwerden i.Z.m. der (provisorischen und definitiven) Rechtsöffnung durch die Erste zivilrechtliche Abteilung behandelt. Bis zum 31. Dezember 2023 war die Zweite zivilrechtliche Abteilung dafür zuständig.

Zusammensetzung der Richter/innen der Ersten zivilrechtlichen Abteilung ab 2024:

  • Monique Jametti (Abteilungspräsidentin)
  • Fabienne Hohl
  • Christina Kiss
  • Yves Rüedi
  • Marie-Chantal May Canellas

 

Quellen:

 

11.1.24

5A_936/2022: Begrenzung des Überschussanteils bei der Berechnung von Kindesunterhaltsbeiträgen

5A_936/2022: Begrenzung des Überschussanteils bei der Berechnung von Kindesunterhaltsbeiträgen

von Jean-Michel Ludin am 11. Januar 2024

Das Bundesgericht stellt im Urteil 5A_936/2022 vom 8. November 2023 klar, dass es unzulässig ist, den Überschussanteil des Kindes pauschal auf einen bestimmten Prozentsatz des familienrechtlichen Existenzminimums zu begrenzen. Ebenso ist es unstatthaft, den Überschussanteil allein mit Verweis auf die Lebensstellung des betreuenden Elternteils zu begrenzen oder deswegen, weil der Überschuss aus einem hypothetischen Einkommen stammt.

Zusammenfassung

Anlass zur Beschwerde an das Bundesgericht gab im vorliegenden Fall die vorinstanzliche Vorgehensweise bei der Festlegung des Überschussanteils des Kindes. Die Vorinstanz hatte den Überschussanteil des Kindes pauschal auf die Hälfte des zuvor festgestellten familienrechtlichen Existenzminimums des Kindes beschränkt. Die Vorinstanzen begründeten dies damit, dass der Lebensstandard des Kindes nie durch die finanziellen Verhältnisse des unterhaltspflichtigen Elternteils beeinflusst worden sei, da die Eltern nicht verheiratet seien und nie zusammengelebt hätten. Zudem resultiere der Überschuss des unterhaltspflichtigen Elternteils aus einem hypothetischen Einkommen. Schliesslich sei auch unter Berücksichtigung erzieherischer Gründe und des Bedarfs des Kindes eine Abweichung von der Verteilregel nach grossen und kleinen Köpfen gerechtfertigt (E. 4.1).

Das Bundesgericht erwog, die rechnerisch resultierenden Überschüsse seien im Grundsatz nach “grossen und kleinen Köpfen” zu verteilen. Indes könne und müsse im begründeten Einzelfall ermessensweise von diesem Grundsatz abgewichen werden. Der Überschussanteil sei nicht für die Vermögensbildung bestimmt, sondern diene der Deckung des laufenden Bedarfs des Kindes. Daher solle sich dieser  bei hohen Überschüssen nicht linear ins Unermessliche erstrecken, sondern sei er im Einzelfall aus erzieherischen und konkreten Bedarfsgründen angemessen zu begrenzen. Ferner sei zu bemerken, dass sich der aus dem Überschuss zu finanzierende Bedarf des Kindes (Freizeitaktivitäten, Hobbies, Ferien u.ä.m.) nach der allgemeinen Lebenserfahrung mit steigendem Alter des Kindes erhöhe, und folglich für die Begrenzung des dem Kind zustehenden Überschussanteils gerade bei günstigen Verhältnissen auch sein Alter mitberücksichtigt werden dürfe. Schliesslich hätten nicht miteinander verheiratete Eltern keinen eigenen Unterhaltsanspruch gegenüber dem andern Elternteil und keinen Anspruch auf Teilhabe an der jeweiligen Lebensstellung. Deshalb sei bei nicht miteinander verheirateten Eltern sicherzustellen, dass der betreuende Elternteil nicht aus dem Überschussanteil des Kindes quersubventioniert werde (E. 3.3).

Das Vorgehen im konkreten Fall lasse sich nicht mit diesen Grundsätzen vereinbaren: Es sei unzulässig, für die Festlegung des Überschussanteils systematisch am familienrechtlichen Existenzminimum des Kindes anzuknüpfen und diesen in einem irgendwie gearteten Verhältnis dazu zu begrenzen. Ebensowenig könne es darauf ankommen, ob der Überschuss aus einem tatsächlichen oder einem hypothetisch ermittelten Einkommen resultiere. Eine derartige Unterscheidung liefe dem im Unterhaltsrecht geltenden allgemeinen Grundsatz der umfassenden Ausschöpfung der vorhandenen Arbeitskapazität zuwider. Unzulässig sei es ferner, den Überschussanteil allein aufgrund der Lebensstellung des (haupt)betreuenden Elternteils zu begrenzen. Auch bei getrennt lebenden Eltern habe das Kind in Anwendung von Art. 285 Abs. 1 ZGB einen Anspruch, an der Lebensstellung des unterhaltspflichtigen Elternteils teilzuhaben. Lebe ein Elternteil in bescheideneren Verhältnissen, solle das Kind nicht vom finanziell besser gestellten Elternteil weniger Unterhalt erhalten, als diesem zustünde, wenn beide Eltern in wirtschaftlich guten Verhältnissen lebten. Begrenzend könne sich indes die Gefahr einer Quersubventionierung des nicht unterhaltsberechtigten Elternteils auswirken (E. 4.3.1).

Demnach erachtete das Bundesgericht die Beschwerde als begründet. Den angefochtenen Entscheid hob es auf und wies die Sache zur Neuberechnung des Barunterhalts an die Vorinstanz zurück (E. 4.3.2).

Kommentar

Das Urteil überzeugt. Insbesondere hält das Bundesgericht zu Recht fest, dass eine Limitierung des Überschussanteils des Kindes stets mit den Umständen des konkreten Einzelfalls begründet werden muss. Eine systematische, pauschale Begrenzung auf 50 % des familienrechtlichen Existenzminimums − wie dies in Lehre und Rechtsprechung bis anhin teilweise gefordert wurde (vgl. Schwizer/Oeri, “Neues” Unterhaltsrecht?, in: AJP 2022, S. 7) − ist unzulässig. Soll der Überschussanteil aus Bedarfsgründen begrenzt werden, ist die Begrenzung des Überschussanteils daher mit Ausführungen zum konkreten Bedarf des Kindes zu plausibilisieren (ebenso Althaus/Mettler, Praxisfragen zur Überschussverteilung, in: FamPra.ch 4/2023, S. 892). Zu warnen ist indes vor überhöhten Anforderungen an die Plausibilisierung. Eine komplexe und zeitintensive Berechnung des tatsächlichen Bedarfs analog der einstufigen Methode muss vermieden werden.

Ebenso ist zu begrüssen, dass das Bundesgericht eine Begrenzung des Überschussanteils alleine mit dem Verweis auf die Lebensstellung des betreuenden Elternteils ablehnt. Eine Begrenzung des Überschussanteils aufgrund einer im Vergleich zum Unterhaltsschuldner tieferen Lebensstellung des betreuenden Elternteils wäre nur dann denkbar, wenn der betreuende Elternteil nicht bereit wäre, einen grosszügigeren Überschussanteil zugunsten des Kindes einzusetzen und der Überschussanteil daher zweckentfremdet würde (BGer-Urteil 5A_382/2021 vom 20.4.2022 E. 6.2.1.3). Davon ist jedoch im Regelfall nicht auszugehen und der Überschussanteil nicht zu begrenzen. Bei Zweckentfremdung sind sodann vor einer Kürzung des Unterhaltsbeitrags primär geeignete Kindesschutzmassnahmen anzupeilen (BGer-Urteil 5A_382/2021 vom 20.4.2022 E. 6.2.1.3).

5.1.24

Revision des internationalen Erbrechts der Schweiz (6. Kapitel des IPRG)

Revision des internationalen Erbrechts der Schweiz (6. Kapitel des IPRG)

von Ramona Fischer am 5. Januar 2024

Der Gesetzesentwurf des Bundesrates vom 13. März 2020 betreffend die Revision des 6. Kapitels des IPRG wurde am 22. Dezember 2023 vom National- und Ständerat in abgeänderter Form angenommen (siehe angenommener Schlussabstimmungstext). Sofern kein Referendum ergriffen wird, ist mit einem Inkrafttreten der revidierten Bestimmungen per 1. Januar 2025 zu rechnen.

Die Revision bezweckt eine Modernisierung und Anpassung des schweizerischen internationalen Erbrechts an die Entwicklungen im Ausland (siehe Botschaft des Bundesrates). Die Änderungen dienen insbesondere der Vermeidung positiver Kompetenzkonflikte.

Zuständigkeit

Der revidierte Entwurf präzisiert die subsidiäre Zuständigkeit der Schweizer Behörden am Heimatort des Erblassers sowie am Schweizer Belegenheitsort von Vermögenswerten: Die subsidiäre Zuständigkeit der Schweizer Behörden am Heimatort ist grundsätzlich gegeben, wenn die ausländischen Behörden des Wohnsitzstaats sich nicht mit dem Nachlass befassen. Die Schweizer Behörden können ihre Zuständigkeit neu auch ablehnen, wenn sich die ausländischen Behörden des Heimatstaates, des letzten gewöhnlichen Aufenthalts oder des Lageorts einzelner Vermögenswerte mit dem Nachlass befassen (Art. 87 Abs. 1 rev-IPRG, Art. 88 Abs. 1 rev-IPRG).

Überdies sieht der revidierte Entwurf die Möglichkeit eines Opting-out betreffend die Zuständigkeit vor: Grundsätzlich begründet eine Rechtswahl zugunsten des Schweizer Rechts automatisch eine Zuständigkeitswahl zugunsten der Schweizer Behörden (Art. 87 Abs. 2 IPRG). Neu kann ein Erblasser die ausländische Zuständigkeit vorbehalten (Art. 87 Abs. 2 rev-IPRG).

Gemäss geltendem Recht können Schweizer Bürger für den Fall, dass sie bei ihrem Ableben ihren Wohnsitz nicht in der Schweiz haben, ihren Nachlass der Zuständigkeit der Schweizer Behörden unterstellen (Art. 87 Abs. 2 IPRG). Neu sollen auch explizit ausländische Staatsangehörige diese Möglichkeit haben: Sie können die Schweizer Zuständigkeit abbedingen, indem sie den Nachlass (oder einzelne Vermögensteile) der Zuständigkeit des Heimatstaates unterstellen. Soweit sich die ausländischen Behörden tatsächlich mit dem Nachlass befassen, schliesst dies die Schweizer Zuständigkeit aus (Art. 88b Abs. 1 rev-IPRG).

Anwendbares Recht

Der revidierte Entwurf sieht eine Anpassung an die Struktur der übrigen Kapitel des IPRG vor, wonach Art. 90 rev-IPRG die Grundsätze betreffend das anwendbare Recht festlegt, während Art. 91 rev-IPRG die Rechtswahlmöglichkeiten normiert.

Von Relevanz ist insbesondere die Neuregelung des Renvoi: Verweist das ausländische Kollisionsrecht auf das schweizerische Kollisionsrecht zurück, so erklärt Art. 90 Abs. 2 rev-IPRG das materielle ausländische Erbrecht für anwendbar.

Neu können nicht nur ausländische Staatsangehörige, sondern auch Schweizer Doppelbürger eine Rechtswahl zugunsten des ausländischen Heimatrechts treffen (Art. 91 Abs. 1 rev-IPRG). Allerdings können Schweizer Doppelbürger das Schweizer Pflichtteilsrecht durch diese Rechtswahl nicht abbedingen. Die daraus resultierende Teilrechtswahl wird in der Praxis voraussichtlich zu Rechtsunsicherheit führen.

Neu können Erblasser den automatischen Gleichlauf zwischen Zuständigkeits- und Rechtswahl vermeiden, indem sie i.S. eines Opting-out einen Vorbehalt anbringen, wonach die Prorogation der Schweizer Behörden (Art. 87 Abs. 2 rev-IPRG) nicht als Unterstellung unter das schweizerische Recht gelten soll (Art. 91 Abs. 2 rev-IPRG).

Schliesslich räumt der revidierte Entwurf im Sinne der Praxisfreundlichkeit dem Eröffnungsstatut bei der Willensvollstreckung und Nachlassverwaltung (insbes. betreffend einen administrator des common law oder Nachlassverwalter i.S.v. Art. 29 EuErbVO) einen weiten Geltungsbereich ein: Gemäss Art. 92 Abs. 2 rev-IPRG untersteht die Frage des Eigentums (der «Berechtigung») dieser Amtsträger am Nachlass dem Eröffnungsstatut. Die Rechte und Pflichten (Aufgaben, Befugnisse, Sorgfaltspflichten, Entschädigungsansprüche etc.) unterstehen demgegenüber dem Erbstatut. Somit kann z.B. bei Geltung des Erbrechts eines Common-law Staats in einem schweizerischen Erbschaftsverfahren ein im Testament bezeichneter executor betreffend die Verfügungsfähigkeit über den Nachlass grundsätzlich wie ein Willensvollstrecker nach ZGB behandelt und die Einsetzung eines administrator durch Anordnung einer amtlichen Liquidation i.S.v. Art. 593 ZGB umgesetzt werden.

Weitere Neuerungen

Zusammen mit Kinga M. Weiss habe ich die wichtigsten Neuerungen des revidierten Entwurfs in detaillierter Form in unserem Newsletter zusammengefasst (hier geht’s zur englischen Version).